Kommentar: In den USA gibt es keine Fakten mehr. Es gibt nur noch Meinungen.
von Nebil Rehouma & Julian Joussen.
Die US-Wahl ist entschieden, der Demokrat Joe Biden hat gewonnen. Außer für Donald Trump. Der Noch-US-Präsident droht, gegen die Stimmauszählung weiter vor Gericht vorzugehen – auch wenn bisher alle Versuche kläglich scheiterten. Er zeigt damit nicht nur erneut seine Verachtung für den absoluten Kernbestand der US-amerikanische Demokratie, sondern auch, wohin sich Demokratien entwickeln können. Die USA besitzen die älteste noch bestehende Demokratie der Welt, die einen Bürgerkrieg, zwei Weltkriege und die große Depression überstanden hat. Dennoch ist sie jetzt so bedroht wie nie zuvor. Wie konnte das passieren, und kann uns das in Europa auch passieren?
Zustand der amerikanischen Demokratie.
Die Präsidentschaftswahlen dieser ältesten Demokratie werden oft auf eine einfache Zahl reduziert – 270. Das ist die Zahl an Wahlmännern bzw. -Frauen, die der künftige Präsident bzw. die Präsidentin auf sich vereinigen muss, um zu gewinnen. Die Wahl 2020 lässt sich aber mit einer anderen Zahl noch viel besser zusammenfassen – der 151. Sie spiegelt das kombinierte Alter der beiden Kandidaten, Joe Biden und Donald Trump, wider. Noch nie in der Geschichte der USA waren die Kandidaten beider großer Parteien über 70. Kein Präsident war beim Amtsantritt so alt, wie Joe Biden es sein wird – nämlich 78.
Das allein zeugt von dem Zustand der amerikanischen Demokratie und Gesellschaft. Für einen Aufbruch, für Hoffnung – eigentlich doch DAS Versprechen dieses Landes, der viel beschworene „American Dream“ – stand und steht keiner der beiden Kandidaten. Der Wahlkampf hat das eindrucksvoll gezeigt. Es ging nie um Ideen, nie darum, wer die USA in eine bessere Zukunft führen kann. Vielmehr überboten sich Trump und Biden damit, den anderen als größtes Übel in der Geschichte des Landes darzustellen. Biden der Sozialist, der senile Greis auf der einen Seite. Trump der Rassist, der verrückte Idiot auf der anderen. Maximale Polarisierung, maximale Spaltung. „Wählt mich, denn ich bin Donald Trump“ gegen „Wählt mich, denn ich bin nicht Donald Trump“.
Wer sich vor der Wahl einschlägige Dokumentationen oder Berichte aus den USA ansah, hörte deshalb von den Amerikanerinnen und Amerikanern unisono :„Wir sind gespalten, wie nie zuvor.“ Das ist aber wohl fast die letzte Gemeinsamkeit in diesem Land. Kein gutes Zeichen, wenn das letzte Bindeglied, der einzig verbliebene gemeinsame Nenner in einer Gesellschaft, die Einigkeit in der Uneinigkeit ist. So verwundert es nicht, dass Demokrat*innen und Republikaner*innen nicht nur nicht mehr miteinander sprechen wollten, sondern es gar nicht mehr konnten. Es verfestigte sich der Eindruck, dass die Regeln des allgemeinen Diskurses weggebrochen seien. Dabei gibt es in so einem Wahlkampf ja einige Gelegenheiten, in denen ein Aufeinandertreffen der beiden Widersacher nicht vermeiden lassen. Diese Begegnungen jedoch erinnerten eher an eine Begegnung mit ET, also eine mit der „dritten Art“. Die Demokraten machten die Republikaner für alles verantwortlich, auch für Probleme, die schon ewig in der amerikanischen Gesellschaft schwelen, die Republikaner schreien gegen die „Fake News“ und beklagen Sprechverbote. Diese vermeintlichen Verbote werden als Angriff auf die eigene Identität verstanden. In einem solchen Klima gesellschaftlicher Anspannung verwundert es folglich nicht, dass gerade die Menschen in den USA, die für ihre fast uferlose Interpretation der freien Rede und der vehement geführten Debatten bekannt sind, keine Lust mehr auf Streit haben.
Auch von dem für einen gemeinsamen Diskurs unbedingt notwendigen Respekt ist nichts mehr vorhanden. Kein Ereignis beweist das besser als das erste TV-Duell von Trump gegen Biden. Trump nennt Biden „Sleepy Joe“, Biden sagt ihm ins Gesicht „Halt doch mal die Klappe“ oder nennt ihn einen „Clown“. Und fast schon konsequenterweise gibt es jetzt keinen Anstand in der Niederlage, denn Trump akzeptiert seine nicht, denn die Wahl ist, glaubt man seinen Twitter-Tiraden, gefälscht. Beweisen kann er nichts. Und da beginnt das schlimmste Problem, das auch uns am meisten bedroht.
„Doch in den USA gibt es keine Fakten mehr. Es gibt nur noch Meinungen.“
Trumps Lüge von der gefälschten Wahl ist nur der letzte Tusch einer Kakophonie, die lange vor seinem Einzug ins Weiße Haus begann und mit seinem Auszug nur von neuem und noch lauter starten wird. Man möchte meinen, etwas objektiveres, als die nackten Zahlen, die eine Wahl so hervorbringt, gäbe es nicht. Doch in den USA gibt es keine Fakten mehr. Es gibt nur noch Meinungen. Wer die Wahl gewonnen hat ist Meinungssache. Ob man eine Maske trägt oder nicht ist ein politisches Statement geworden. Und so schlimm fehlende Hoffnung und mangelnder Anstand auch sind, das ist das schlimmste Problem von allem, denn es zerstört die politische Debatte komplett.
Aber wie können die USA und auch wir in Deutschland dieses Problem überwinden, was hat uns dahin gebracht und was können wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen?
Vor allem muss wieder allen in der Gesellschaft klargemacht werden, worin der Unterschied zwischen Fakten und Meinungen liegt. Fakten können verschieden gedeutet werden, also zu unterschiedlichen Meinungen führen. So kann bspw. der Fakt „es gibt Wohnungsmangel“ zur Meinung „Wir müssen Mieten deckeln“ oder zur Meinung „Der freie Markt ist die Antwort“ führen. Eine Meinung darüber, wie etwas zu sein hat, führt aber nie zu Fakten. Die Meinung „Der freie Markt ist toll“ führt nie zum Fakt „Die Mieten sind niedrig“. Daher dürfen Fakten niemals als Meinung oder gar „alternative Facts“ dargestellt werden, sondern Fakten basieren auf gesichertem Wissen. Wir bilden uns unsere Meinungen aus Fakten, nicht die Fakten aus unseren Meinungen. Das Bestehen von Fakten darf natürlich nie die Diskussion über diese Fakten ersetzen. Jeder Fakt wirft die Frage auf: was machen wir jetzt damit? Und eben da beginnt die Debatte, die die wichtigste Säule der Demokratie darstellt. Sie wird durch die Umetikettierung von Fakten hin zu Meinungen oder „alternative Facts“ in ihrem Wesen erschüttert. Dabei stehen aktuell, gerade unter Trump, aber auch bspw. der AfD, die Medien besonders im Fokus. Stichwort „Fake News“.
Medien sollen oder müssen sogar an der politischen Meinungsbildung teilnehmen. Dabei dürfen sie auch durchaus tendenziös sein. US-Sender wie FOX, CNN, MSNBC und Co. waren immer mehr als tendenziöse Teilnehmer am politischen Diskurs – sie waren Meinungsmacher. In den letzten Jahren wurde das immer extremer. Die Grenzen zwischen Fakten und Meinungen verwischen. Deswegen bestimmt sich die Wirklichkeit, in der die Menschen in den USA leben, inzwischen nach dem Sender, den sie sehen und nach der Zeitung, die sie lesen. So wird nur die eigene Meinung zementiert und verschiedene Deutungsmöglichkeiten von Fakten werden gar nicht mehr thematisiert. Stattdessen werden verschiedene Meinungen als Fakten dargestellt.
Ein Donald Trump ist kein rein amerikanisches Problem.
Jedoch müssen wir uns als Gesellschaft unbedingt davor hüten dieses Problem als rein amerikanisches zu begreifen. Trump ist auch dort nur ein Symptom der seit Jahrzehnten fortwährenden Angriffe auf die Säulen der Demokratie. Solche Angriffe gibt es aber nicht nur in den USA und sie können überall erfolgreich sein. Auch, und das zeigt die jüngste Entwicklung, hier in Deutschland. Auch hier sind Akteure wie Gauland, Höcke und Petry auf den Plan getreten, die die Grenzen zwischen legitimer Meinung über Fakten und reinem Bauchgefühl verschoben haben. Schon jetzt sehen wir auf Telegram eine Parallelwelt, aufgebaut von Menschen wie Atilla Hildmann, die Corona und seine Gefährlichkeit leugnen, an die Zwangsimpfung aller Menschen und bluttrinkende Eliten glauben. Auch bei uns in Heinsberg marschieren sie. Wir können sie als ein paar Spinner oder Verrückte abtun, die keiner ernst nimmt. Oder diesen Umstand als Anlass zur Kraftanstrengung verstehen, uns wieder der Fakten zu bemächtigen. Nur so kann wieder ein faires und konstruktives Ringen um den besten Weg für die demokratische Gesellschaft beginnen. Denn das Beispiel Ungarn – unter Viktor Orban – zeigt, dass, wenn einmal die Deutungshoheit in der Hand von Populisten und Demagogen ist, dies das Ende der Demokratie besiegelt. Die USA schienen auf dem Weg dahin, haben aber die letzte Abzweigung gerade noch gefunden. Lassen wir es hier niemals so weit kommen.