„Die spinnen die Briten?“ – eine Analyse des Brexits (Teil I)
Nun ist es soweit. Großbritannien ist nun auch aus dem Übergangsabkommen mit der EU raus. Das hinterlässt bei uns eine Vielzahl von Fragen: Wie konnte das passieren? Was passiert jetzt? Wer hat etwas davon? Ich selber habe durch meinen britischen Vater die doppelte Staatsbürgerschaft und bin daher in vielerlei Weise durch den Brexit betroffen. Aus diesem Grund haben meine Familie und ich die letzten Jahre den Brexit über britische und deutsche Medien verfolgt. Wir konnten uns so ein gutes Bild von der Lage machen. Ich kann jedoch verstehen, dass der Brexit für Außenstehende sehr schwierig zu verfolgen war. Daher werde ich deshalb in mehreren Teilen versuchen, dieses umfangreiche Thema zu erklären und die oben genannten Fragen zu beantworten.
Wie entstand die Idee des Brexits?
Um zu erklären, wie die Idee vom Brexit überhaupt erst entstanden ist, werden die meisten wohl am 23. Januar 2013 ansetzen, dem Tag der Ankündigung des Referendums. Allerdings fing die Skepsis der EU gegenüber schon weit früher an. Es ist wichtig, im Hinterkopf zu halten, dass Großbritannien immer über viel Nationalstolz verfügte. In der Vergangenheit, als ehemalige Kolonialmacht, war Großbritannien immer ein Global Player gewesen, der über weitreichenden Einfluss in der Welt verfügte. Erst in der EU hatten die Briten erfahren, wie es ist, wenn jemand etwas für sie bestimmt, auch wenn es Dinge waren, die dem Land halfen. Jedoch verstanden und verstehen noch immer viele Briten das demokratische Konzept der EU nicht und wieso es wichtig und hilfreich ist, sich mit anderen Ländern politisch zusammenzuschließen.
Auch wichtig für die Entstehung des Brexits ist, dass Großbritannien in seiner Presselandschaft sehr wenig Vielfalt hat. Die großen Zeitungen gehören den drei Akteuren Murdoch, Rothermere und der Guardian Media Group. Zwei dieser drei Akteure (Murdoch und Rothermere) waren seit Einführung der EU dieser gegenüber sehr kritisch. Dies nahm in den 90er Jahren obskure Ausmaße an, als Boris Johnson als Brüssel-Korrespondent beim Telegraph arbeitete. Seine Kolumnen waren meist erlogen und übertrieben. Zum Beispiel schrieb er, die EU wolle das weltgrößte Gebäude als Hauptquartier errichten oder die EU würde den Verkauf krummer Bananen verbieten. Diese Artikel bestimmten so über viele Jahre für einen Großteil der Briten das Bild von einer EU der Bürokratie und schwachsinniger Gesetze.
Was außerdem hierzulande nicht großartig medial berichtet wurde, ist, dass die konservative Tory-Regierung bereits seit dem Vertrag von Maastricht 1992 ein gefundenes Fressen an der EU gefunden hatte, obwohl die konservative Thatcher-Regierung überhaupt erst für einen Großteil der europäischen Integration und die Entstehung eines EU-Binnenmarktes verantwortlich war. Für viele Fehler der Regierung wurde die EU verantwortlich gemacht. Dies nahm unter Premierminister David Cameron ein neues Höchstmaß an und auch Cameron selbst profitierte von dieser Sichtweise. Er hatte 2005 als Europaskeptiker den Parteivorsitz erhalten.
Diese Nähe zu Europakritikern führte 2013 dann dazu, dass auf Cameron sowohl von seiner Partei als auch von der sogenannten UKIP (quasi die „britische AfD“), die in Umfragen einen massiven Sprung hinlegte und nun bei fast 20% in den Umfragen stand, ein immenser Druck aufgebaut wurde, das EU-Referendum zu veranlassen. Daraufhin kündigte er am 23. Januar 2013 an, die Rolle Großbritanniens in der EU neu verhandeln zu wollen. Außerdem solle daraufhin ein Referendum stattfinden, ob Großbritannien unter diesen Konditionen in der EU verbleiben oder aus ihr austreten werde.
Dies kann man als einen klugen Schachzug beschreiben, da die Tory-Regierung sich zu diesem Zeitpunkt mit den Liberal-Democrats (quasi die „britische FDP“) in einer Koalition befand. Diese Partei war und ist gegen den Brexit. Es ist relativ sicher davon auszugehen, dass Cameron das Referendum als Stimmenfang nutzen wollte. Er jedoch vermutete, dass er dies nie umsetzen müsste, da die Regierungspartner dagegenhalten würden.
Nun kam es aber, dass die Torys 2015 in der Unterhauswahl entgegen ihrer Erwartungen die absolute Mehrheit erhielten. Somit musste der britische Premier seine Ankündigungen nun in die Tat umsetzen. Er stellte im November 2015 mehrere Kernforderungen an die EU. Eine davon war zum Beispiel die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU, da Großbritannien keine Sozialleistungen an Migrant*Innen zahlen wollte. Einen automatischen Anspruch auf Sozialleistungen gab es aber in der EU überhaupt nicht, womit diese Forderung von SPD-Europaabgeordneter Jo Leinen als „unnötig“ bezeichnet wurde. Andere Forderungen von Cameron wurden ihm jedoch von der EU zugesichert. So zum Beispiel, dass Großbritannien sich nicht an einem zukünftigen Rettungsschirm beteiligen müsse und dass die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Marktes erhöht werden sollte.
Warum gewannen die EU-Gegner das Referendum?
Nach dem Abschluss der Verhandlungen musste Cameron nun auch seine zweite Ankündigung wahr werden lassen und legte am 20. Februar 2016 tatsächlich das Datum des Referendums auf den 23. Juni fest. Es folgte einige Monate ein Endspurt voll aufgeheizter Debatten der beiden Kampagnen: „Vote Leave“ und „Britain stronger in the EU“. Die Regierungspartei war gespalten. David Cameron kämpfte für einen Verbleib in der EU, dagegen hielt zum Beispiel sein Parteikollege und auch alter Schulfreund Boris Johnson. Die Entscheidung und sehr medienwirksame Ankündigung Johnsons, für die „Vote Leave“-Kampagne zu kandidieren bewies sich in den Augen vieler Beobachter als ein auschlaggebendes Ereignis während der Brexit-Kampagne. Die UKIP nahm eine zentrale Rolle gegen die EU ein. Sie fungierte als eine Art Zugpferd für die Leave-Kampagne, obwohl sie nie offiziell als Teil dieser Kampagne unterstützt worden war. Denn durch ihre extreme Sichtweise und ihre kontroverse Hauptfigur Nigel Farage fürchtete die Kampagnenleitung, moderate Wähler zu verlieren. Auf der Gegenseite waren die Liberalen, die Schottische Nationalpartei und die Sozialdemokraten zu finden. Doch durch unzählige Lügen, falsche Hoffnungen und den Skandal um die Datenanalysefirma Cambridge Analytica, welche die Leave-Kampagne unterstützte, gewann letztendlich die Kampagne der EU-Gegner die Oberhand und erhielt im Referendum 51,9%.
Dieses Ergebnis ist wohl eines der deutlichsten Beispiele, wie Populismus Wahlen gewinnen kann. Alles, was es braucht, ist ein roter Bus, der irgendeine irreführend kalkulierte Zahl zeigt und sagt, dieses Geld werde in das Gesundheitssystem investiert. Dass das britische Gesundheitssystem seit Jahren unterfinanziert war und stark auf ausländisches Personal baute, wurde hierbei natürlich nicht erwähnt. Auch um die allseits bekannten Fischereiquoten wurde viel Lärm gemacht. Die Brexit-Kampagne holte sich damit viele verärgerte Fischer (deren Wirtschaft übrigens nur 0,1% des Bruttoinlandsprodukts Großbritanniens ausmacht), die am Rande ihrer Existenz lebten, weil der Fisch von europäischen Fischern weggefischt wurde. Auch hierbei kam nicht zur Sprache, dass die britische Regierung die Fangquoten zuvor für Geld an andere EU-Staaten verkauft hatte. Die Folgen sehen wir nicht nur im Referendum, sondern auch in der Gesellschaft. Diese ist tief gespalten, was sogar nur wenige Tage vor dem Referendum selbst zum Mord an Jo Cox führte, einer sozialdemokratischen Abgeordneten des britischen Parlaments.
Unmittelbare Folgen des Referendums:
Nach diesem traurigen Ergebnis des Referendums verlieren wir außerdem den ersten Hauptcharakter des Brexits: David Cameron. Nach seiner fatalen Fehlkalkulation um das Referendum möchte er die Folgen seines Handelns nicht tragen. Cameron tritt zurück und lässt das Vereinigte Königreich gespalten und vor einer großen Herausforderung alleine. Seine politische Karriere und sein Einfluss haben hier vorerst ein Ende genommen. Neue Vorsitzende der Konservativen Partei und damit auch Premierministerin wird Theresa May, die sich die „eiserne Lady“ Thatcher als Vorbild nimmt und den meisten vermutlich eher wegen ihrer fragwürdigen Tanzschritte in Erinnerung geblieben ist.